Montag, 6. Juli 2009

Aus Jorge Luis Borges' Schatztruhe

Vor kurzem hielt mich abends ein Unbekannter in der Calle Maipú an.
„Borges, ich will Ihnen für etwas danken“, sagte er. Ich fragte, worum es gehe, und er antwortete:
„Sie haben mich zu Stevenson gebracht.“
Ich fühlte mich gerechtfertigt und glücklich. … Wie die Entdeckung von Montaigne und von Sir Thomas Browne ist die von Stevenson eine der dauerhaftesten Seligkeiten, die uns die Literatur schenken kann.
Robert Louis Stevenson wurde Anfang 1850 in Edinburgh geboren. Sein Vater und Großvater waren als Ingenieure mit dem Bau voll Leuchttürmen befaßt; eine berühmte Zeile erinnert an die Türme, die sie errichteten, und an die Lampen, die sie entzündeten. Sein Leben war schwer und tapfer. Bis zum Schluß bewahrte er, wie er über einen Freund schrieb, den Willen zum Lächeln. Die Tuberkulose trieb ihn von England ans Mittelmeer, vom Mittelmeer nach Kalifornien, von Kalifornien schließlich nach Samoa, in die andere Hemisphäre. Dort starb er 1894. Die Samoaner nannten ihn Tusitala, den Geschichtenerzähler; Stevenson befaßte sich mit allen Gattungen, einschließlich Gebet, Fabel und Lyrik, aber die Nachwelt zieht es vor, seiner als eines Erzählers zu gedenken. Er sagte sich vom Calvinismus los, glaubte aber, wie die Hindus, daß das Universum von einem moralischen Gesetz beherrscht wird und daß ein Verbrecher, ein Tiger oder eine Ameise wissen, daß es Dinge gibt, die sie nicht tun dürfen.
Das alter ego, den Generationen durch die Spiegel aus Glas und Wasser eingegeben, hat Stevenson immer beschäftigt. In seinem Werk finden sich vier Variationen dieses Themas: die erste in der heute vergessenen Komödie Deacon Brodie, die er zusammen mit W E. Henley schrieb und deren Held Kunsttischler und gleichzeitig Räuber ist; die zweite in der allegorischen Erzählung Markheim, deren Schluß unerwartet und unausweichlich ist; die dritte in The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde, dessen Plot ihm durch einen Albtraum eingegeben wurde (diese Geschichte ist mehrfach verfilmt worden; unweigerlich lassen die Regisseure beide Personen von einem einzigen Darsteller spielen, was die Schlußüberraschung zerstört); die vierte in der Ballade Ticonderoga, wo der Doppelgänger, the fetch, seinen Mann aufsucht, einen Highlander, um ihn zum Tod zu führen.
Robert Louis Stevenson ist einer der skrupelhaftesten, einfallsreichsten und leidenschaftlichsten Autoren der Literatur. André Gide hat über ihn geschrieben: »Wenn das Leben ihn berauscht, ist er wie leichter Champagner.»
Jorge Luis Borges, Persönliche Bibliothek, Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1995, darin auf den Seiten 303 und 304: der zitierte Beitrag über Robert Louis Stevenson - Los nuevas noches drabes. Markheim

Und hier geht es nun zu Markheim (immer wieder verglichen mit Dostojewski, Schuld und Sühne):
http://www.classicreader.com/book/1372/1/

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